Nathan Katz - "Annele Balthasar"Drama
ein Drama über die Hexenverfolgungen - 1924 uraufgeführt
Deutsche Version - aus dem Elsässischen (Hoch-Alemannischen) übersetzt
Das in 1924 uraufgeführte Stück S’Annele Balthasar ist eine dramatische Dichtung des jüdisch-elsässischen Schriftstellers Nathan Katz (1892-1981), in elsässisch-sundgauer Mundart verfasst. Das Stück spielt im Jahr 1589 und beruht auf einen tatsächlich erfolgten Hexenprozess gegen ein junges Bauernmädchen. Es wurde neulich von Jean-Louis Spieser ins Französische übersetzt, im Zug einer kräftigen Wiederbelebung des Interessens in das Werk von Nathan Katz. Es erschien in einer doppelsprachigen (Französisch-Elsässischen) Ausgabe bei Editions Arfuyen.
Ich habe jetzt das Stück ins Deutsche (sowie auch ins Englische) übersetzt, und hoffe, Nathan Katz sowie der Annele zu einer glückligen Fahrt in die literarische Zukunft zu verhelfen.
Anne-Marie de Grazia (2023)
zum Stück, auf Deutsch:
(...)
Gerichtsvorsitzender (zu Annele:) Du sollst jetzt hier Antwort geben auf unsere Fragen! Du gestehst, dass du dich dem bösen Geist verschrieben hast, und dass du zu Fulleren auf dem Fuchsberg auf dem Hexentanz gewesen bist.
Annele: Sieben Richter sitzen zu Gericht... die Jahre laufen... die Jahre gehn... sieben Totenköpfe faulen im Boden!...
Gerichtsvorsitzender: Du sollst reden, was man dich frägt!...
Annele: Aber ich bin ja nur ein armes Weilerer Mädchen... Jetzt wollt ihr mir Weh tun... mit euren rauen Händen! (Aufschreiend) Muss das fürchterlich sein im Grab!... In der Feuchtigkeit dort unten!... Nicht einmal das!... Beim lebendigen Leib zu verbrennen!
Gerichtsvorsitzender: Wenn ist der böse Geist zu dir gekommen? Antworte jetzt!
Annele: Zum Fensterlein ist er gekommen... Seist nicht so wild, du lieber Bub... was, wenn eine Scheibe zerbrichst... was meinst, dann! (Lacht auf) Sei doch nicht so wild!... – Eine Nelke hast’ mir vom Fensterbrett gestohlen!... O du Gescheiter du! Du wolltest nur, dass ich hinaus kommen sollte, um dich zu schelten!... Ich hab’ es doch gewusst!
Gerichtsvorsitzender: Du warst manchmal auf dem Hexentanz!
Annele: Ich hatte keine Ruhe mehr, Tag und Nacht!... Gebrüllt hat er nach mir! Gejauchzet hat er über die Scheunendächer! Die Bäume hat er zerrissen! Ich lag so warm unter’m Deckbett!... Ich, schönes Annele!... Ich lag wach,... Wie er manchmal schöne Dinge gesäuselt hat von draußen, als wie wenn eine Luft durch eine Menge Pfingstrosenstengel weht!... Ich habe ihn gehört, die ganze Nacht! Ich weinte in die Kissen hinein!...
Gerichtsvorsitzender: Du bist mit auf den Fuchsberg gefahren!
Annele (wild auflachend): Juchu!! Juchu!! Durch die Nacht sind wir geritten... durch’s Kamin... auf’m Besenstiel! Wie der Wind! Juchu!... Über Kirchhöfe... über die Wälder, über die Dörfer! – – Zu Altpfirt haben wir getanzt rund um den Galgen herum! Wie der Wind so schnell! Wie der Wind! – – Ist das nicht lustig, mein Liebster, mein Schatz... Haha! Über Wälder, über Talmulden, über finstere Dörfer hinüber!... Nackt haben wir getanzt in die Fichten hinein!... Die Käuzchen haben geschrien dazu... Die Hunde haben geweint... Im Dörfchen ist danach einer gestorben.
Gerichtsvorsitzender: Du gestehst, dass du auf Geheiß des bösen Geistes den Leuten des Dorfes Schaden angerichtet hast?!
Annele: Jetzt kommt er, der Doni!... Dort!... Ich wusst’ es doch, dass er kommt, mir zu helfen! Er ist so stark! Er weiß so viel! Ich hab’s doch gewusst, dass er kommen müsse!... Gell, wenn’s schon deine Leute nicht haben wollen, du haltest doch zu mir?!
Gerichtsvorsitzender: Höre, was man dich fragt! Beim Peter Lütz hast du einem Kinde etwas zu Leide getan?...
Annele: So schön hat es dort in der Wiege gelegen... Gelacht, hat es...
Gerichtsvorsitzender: Du hast es auf den Arm genommen! Danach lag es vier Wochen lang und grabbelte.
Annele: Das arme Kind, wie es grabbelte!
Gerichtsvorsitzender: Beim Kläus Kampf bist du durch den Stall gelaufen?
Annele: Der Stall beim Kampfe Kläus!... So gut warm... der Kurzfuttertrog dort!... Durch’s Fenster ein wenig Licht... Die Ketten klingelten. Das Vieh kaute.
Gerichtsvorsitzender: Drei Kälber sind darauf eingegangen!
Annele: Die armen Kälblein!...
Gerichtsvorsitzender: Du gestehst, dass du den Stall verhext hast?
Annele: Wie sie demütig, krank dort gestanden haben, die Kälblein!
Gerichtsvorsitzender (nachdenklich): Schreibet das nieder!
(...)
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nathan katz - annele balthasar (mit vollst. 1924 bühnenanweisungen) - pdf
Nathan Katz (1892-1981)
Nathan Katz wurde am Weihnachtsabend 1892 im Dorfe Waldighoffen (Einwohner damals ca 750), im Sundgau, der südlichen Spitze des Elsass, 25 km von Basel entfernt, als Sohn des koscher Metzgers Jakob Katz und Fanny Schmoll geboren. Das Elsass gehörte zu jener Zeit, in Folge der französischen Niederlage Krieg von 1870-71, zum Deutschen Reich. Er studierte auf der Grundschule des Dorfes und las mit Leidenschaft die Geschichten des "Buffalo Bill" und Karl Mays Indianer-Romane, die er im Dorfladen erstehen konnte, bis der Pfarrer des Dorfes diese als “Schundliteratur” abkanzelte. Der Ladenbesitzer erstand daraufhin einen Stoß Dramen von Friedrich Schiller (1759-1805) und der kleine Nathan verschlang nun diese. (Bild: sein Geburtshaus in Waldighoffen)
Im Einzelhandel wurde Fleisch damals in Zeitungspapier gewickelt verkauft, mit welchem die Familienmetzgerei regelmäßig durch einen in Basel arbeitenden Lumpensammler versorgt wurde. Nathan hatte die Gewohnheit, alle literarischen Artikel herauszuschneiden, und setzte für seinen eigenen Gebrauch Literaturbeilagen und literarische Zeitschriften, ob auf Deutsch oder Französisch, beiseite. So wurde er mit Rilke, Péguy, Rabindranath Tagore und Frédéric Mistral vertraut. Als Fünfzehnjähriger fing er an, als Büro-Lehrling in der ortsansässigen Textilfabrik zu arbeiten.
Durch einen Freund, der an dem Grundschullehrer Institut zu Altkirch studierte, machte er sich mit den griechischen Klassikern, Sophokles, Aristophanes, Platon - aber auch mit den asiatischen Dichtern: Hafis, Kalidasa, Li Bai und Du Fu, den Klassikern des Westens, Goethe, Hölderlin, Heine, Shakespeare, Baudelaire, Balzac und seinen ganz besonders verehrten Racine vertraut, sowie mit alemannischer Dichtung durch deren führenden Vertreter, Johann Peter Hebel, den er schon seit Schultagen kannte.
Er wurde im September 1913 unter deutscher Uniform zum aktiven Militärdienst ins 113. Infanterie-Regiment in Freiburg-im-Breisgau einberufen und anlässlich der Kriegserklärung am 2. August 1914 sofort mobil gemacht. Drei Wochen später wurde er bei Saarburg schwer verletzt - nahezu einen Arm verlierend. Er wurde zur Genesung zum Roten Kreuz Dienst zu Freiburg geschickt: er nutzte die Gelegenheit, um als freier Zuhörer an der Universität den Kurs in alemannischer Literatur von Professor Philipp Witkop zu verfolgen.
Im Januar 1915 wurde er zum 150. Infanterie-Regiment nach Ostpreußen, und im März an die Russland Front geschickt. Im folgenden Juni wurde er in Russland gefangen genommen und in einem Gefangenenlager bei Nischni Nowgorod inhaftiert. Die Russen betrachteten elsässische Soldaten, ungeachtet der deutschen Uniform, als Franzosen, so dass seine Haftbedingungen es ihm erlaubten, seinen ersten, pazifistischen Gedichtband in deutscher Sprache zu verfassen: Das Galgenstüblein. Ein Kampf um die Lebensfreude. Es wurde nach dem Krieg in Deutschland herausgegeben und auf Russisch und Armenisch übersetzt.
Er selbst wurde im August 1916 über Archangelsk nach Frankreich repatriiert und dort während sechzehn Monaten als feindlicher (deutscher) Soldat im Kriegsgefangenenlager zu Saint-Rambert-sur-Loire gefangen gehalten. Er wurde zur Arbeit in der Rüstungsindustrie in Saint-Etienne eingezogen. Dann wurde er ins “Depot für Elsässer und Lothringer” nach Lourdes verbracht, wo er noch einmal 18 Monate Gefangenschaft verbüßte. Nach über vier Jahre Haft, wovon fast drei in Frankreich, kehrte er im September 1919 nach Waldighoffen zurück.
Er begann, in der elterlichen Metzgerei zu arbeiten. Zu dieser Zeit scheint er ein tiefes Verhältnis mit einem Mädchen vom Dorfe eingegangen zu haben, das von Familienmitgliedern (wahrscheinlich von beiden Seiten) durchkreuzt wurde, weil er Jude war. Es würde seine Lebenslange Liebeslyrik inspirieren und lieferte ganz sicher den schmerzhaften Ausgangspunkt der Annele Balthasar. Das Stück wurde 1924 durch das Théâtre Alsacien de Mulhouse uraufgeführt.
Nathan Katz schloss sich einer intellektuell anregenden und tatkräftigen Gruppe junger, avantgardistischer, elsässischer Künstler an, die ein junger Industrieller von Altkirch, René Jourdain, um sich scharte. Unter ihnen befanden sich der Maler Robert Breitwieser, der jüdisch-elsässische Dichter Maxime Alexandre, sowie der geborene Breton und bedeutende Surrealist Eugène Guillevic, der selber die elsässische Sprache erlernte.
Nathan Katz lernte fließend Englisch und übersetzte Gedichte von Robert Burns, Edgar Allan Poe, Shakespeare und Byron ins Elsässische, und machte sich nebenbei noch mit Provenzalisch vertraut, und übersetzte Frédéric Mistral.
Im Jahr 1923, wurde er Geschäftsvertreter für die Société Alsacienne de Constructions Mécaniques (SACM) von Mulhouse (die spätere Alstom) und reiste durch das industrialisierte Europa. Er verlor seine Stellung als die Wirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre einschlug. Nach einer Zeit Arbeitslosigkeit, fand er eine neue Stelle bei dem neu gegründeten Bäckerei Zutaten Hersteller Ancel in Strasbourg und bereiste nun Südfrankreich und Nordafrika. Drei Bücher sollen ihn überall begleitet haben: Das Leben des Buddha, Goethes Faust, Ernest Renans La Vie de Jésus. Er schrieb seine Gedichte in Zügen, auf Schiffen, in Hotels und auf Kaffeehaus Tischen.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges meldete er sich zur Wehrpflicht in Périgueux, wurde abermals mobilisiert und nach Philippeville nach Algerien geschickt. Da er fast fünfzig war, wurde er im Juli 1940 entlassen und “in seine Heimstätte zurückgeschickt” - nur dass er dort nicht hingehen konnte, da das Elsass abermals überfallen und von Hitler annektiert worden war, und er ein Jude war.
Aus demselben Grunde, sein Judentum, wurde er von der Ancel Gesellschaft, die sich nach Limoges verlagert hatte, entlassen. Die Vichy-Behörden stempelten einen "JUIF" über seinen Reisepass, sodass er keine Arbeit mehr finden konnte. Er verbrachte den Rest des Krieges versteckt und in Armut in Limoges. Von dort verfolgte er den Vorstoß der Alliierten und die Befreiung des Elsasses.
Er kehrte ins Elsass zurück und bezog eine Stellung als Bibliothekar an der Stadtbibliothek von Mulhouse. In 1948, heiratete er Françoise Boilly (1912-1991), von Rouen, zwanzig Jahre jünger als er, eine Urenkelin von Napoleons Général Foy sowie des Malers Louis-Léopold Boilly. Sie konnte seine Lyrik zwar nicht verstehen, erkannte sie jedoch am Ohr, da sie eine feine Musikerin war.
Er starb in Mulhouse am 12 Januar 1981.
Ich bin Florence Siebert verpflichtet für viele neue Einsichten in Nathan Katz' Biographie.
seine Sprache
Nathan Katz dichtete in Elsässisch, einer Form der alemannischen Sprache und, im elsässischen wiederum, in der besonderen Variante des Sundgaus (Hochalemannisch), des kleinen ländlichen Gebietes im Süden, in unmittelbarer Nähe von Basel, dessen hügelige Landschaft den nördlichen Anfang des Jura Gebirges ausmacht.
Ich selbst bin eine Art lebendes Fossil, da ich diese Variante des Elsässischen immer noch spreche, wenn auch nicht in deren reinsten Form, da ich in Habsheim, an der Grenze des Sundgaus, aufwuchs. Sundgauer Elsässisch soll jetzt praktisch verschwunden sein.
Annele Balthasar wurde 2018 zum ersten Mal ins Französische von meinem Landsmann und Ko-Fossil Jean-Louis Spieser übersetzt und vom Verlagshaus Arfuyen in einer zweisprachigen, französisch-elsässischen Auflage herausgegeben.
Letzten Herbst entschied ich mich, mein langgehegtes Vorhaben einzulösen, und die Annele Balthasar ins Englische zu übersetzen um ihr zum Überleben in der dominanten Sprache zu verhelfen. Nach mir wird es wohl keinen mehr geben, der sich dessen annehmen wird.
Ich hatte immer gehofft, ein bona fide deutscher Übersetzer - womöglich ein Dichter - würde das Stück ins Deutsche übersetzen, aber da es nach fast einem Jahrhundert immer noch nicht geschehen ist, habe ich mich entschieden, aus schierer Hubris, mich auch noch an diese Übersetzung zu wagen.
Nathan Katz und ich
Mein Vater, Jules-Xavier Halbwachs, (1900-1961) leitete die Werbe- und Reiseagentur Agence Havas in Mulhouse. Er war auch ein Ratsmitglied des Théâtre Alsacien de Mulhouse. Meine Mutter, Hortense Hueber (1923-1970), die unverheiratet war, arbeitete in meines Vaters Agentur als Werbevertreterin bei Betrieben und Geschäften der Stadt - ganz und gar der Beruf des Leopold Bloom in James Joyces Ulysses, tagsüber Leuten von einem Ende der Stadt zum anderen besuchend, und überall wohlbekannt, wie er.
Eine der Veröffentlichungen, die meine Mutter regelmäßig betreute, war Le Journal des Ménagères, (“Hausfrauenblatt”), ein Familienunternehmen der Rugé Druckerei (das Blatt bestand bis 2021!). Zu jener Zeit, als sich meine Mutter um die Werbung kümmerte, war es ein kleines, anspruchsloses, achtseitiges Wochenblatt im Tabloid-Format, mit praktischen Hinweisen, Kochrezepte, Kurzgeschichten, kulturelle Meldungen, usw., mehr oder weniger zweisprachig, für die Mülhauser Hausfrauen bedacht. Es war bescheiden, billig, hatte eine unglaublich tiefe Verbreitung und war gierig gelesen. Lokalbetriebe wetteiferten um seinen begrenzten Werberaum.
Und in fast jeder Ausgabe dieses bescheidenen Journals des Ménagères, auf der vorletzten Seite, befand sich, eingerahmt, ein... Gedicht von Nathan Katz. Ich las natürlich jede Woche das Journal, und kriegte so, zwischen dem Alter von 10 bis 17, meine wöchentliche Dosis Nathan Katz Dichtung. Dies war meines Wissens das einzige Schreiben auf Elsässisch, das man regelmäßig in Mulhouse in der Presse finden konnte, und mit dem ich früh genug lernte, Elsässisch zu entziffern.
Meine Mutter bemühte sich ebenfalls um die Werbung in den Vorstellungsprogrammen des Théâtre Alsacien de Mulhouse, wo mein Vater über das, was gespielt wurde, die Oberhand führte. Kein Zweifel, dass sein Wort für die 1958 Neuinszenierung von Annele Balthasar ausschlaggebend gewesen sein muss. Zu dieser Zeit verfügte Mulhouse über ein majestätisches Stadttheater mit einer vollen Opern- und Konzertsaison, inklusive Hausensemble, Symphonieorchester, Chor und Ballett. Ganz nahe dabei stand die Brasserie du Théâtre, wo man “zuvor” und “nachher” gesehen werden musste, dessen oberes Stockwerk den “Cercle,” das Hauptquartier des Théâtre Alsacien de Mulhouse, beherbergte. Das TAM produzierte ein oder zwei Theaterstücke auf Elsässisch jede Saison, sowie ein beliebtes Weihnachtsstück, und benutzte die Einrichtungen des Stadttheaters.
Ich selber habe leider die Annele Balthasar damals nicht gesehen. Ich war zurzeit neun Jahre alt und meine Mutter scheute sich wohl vor dem Eindruck, den diese grausame Geschichte von Hexenverfolgung und Hexenverbrennung auf mich hätte haben können, zurück - dabei vergessend, dass ich in eine Schule ging, die nach Jeanne d'Arc, die wohl bekannteste der verbrannten Hexen, benannt war...
Es ist sehr schade, dass sie mich nicht hinbrachte. Ich habe nämlich alle anderen Produktionen des TAM zu dieser Zeit gesehen und hatte das Privileg, nachher sie in die magische Welt des “Cercle” zu begleiten, wo um einen Hufeisenförmigen Tisch mit gestärktem weißem Tafeltuch “sie alle” saßen und tranken und sich unterhielten und lachten und sich leichte Speiseplatten von der Brasserie hinaufbringen ließen.
Und dort traf ich mindestens zwei, wenn nicht drei Mal, Nathan Katz. Er würde dann am Ende seiner Sechzigerjahre gewesen sein. Ich erinnere mich gut an ihn, besonders eines Males, da er in der Mitte des Hufeisens mit dem Rücken gegen die Wand saß, neben meinem Vater, und ich, mit meiner Mutter, saßen fast genau ihnen gegenüber. Ich muss damals zehn oder elf gewesen sein. Nathan Katz war der erste Autor, Dichter und Dramatiker, dem ich begegnete und dem ich beim Kommen und Gehen respektvoll die Hand schüttelte, wie das zur Zeit von Kindern erwartet wurde. Er war sehr scheu, sehr aufmerksam, mit einem stechenden, mobilen Blick. Er war extrem freundlich. Er war ein bisschen spröde, ein bisschen schäbig, und ein bisschen komisch in seiner Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. Der spontanen Hierarchie zufolge, die Kinder zwischen Erwachsenen etablieren, erschien er mir wie der am wenigsten “wichtigen” der Anwesenden, und, glaube ich, auch der, mit dem man sich am wohlsten fühlen musste.
Vielleicht erschien er mir schüchterner im Kontrast mit dem Rest der Gesellschaft, meistens ausgelassener, frisch von der Bühne herabsteigender Schauspieler, und schwadronierender Politiker Bossen - wie Emile Muller, der unabsetzbare sozialistische Bürgermeister und Abgeordnete, und sein Erster Adjoint, Adolphe May, für kulturelle Angelegenheiten verantwortlich, ein Intimfreund meines Vaters. Dort erschien der legendäre Tony Troxler, der den Doni gespielt hatte, und die liebliche X, deren-Nahmen-ich-vergesse, die vielleicht die Annele gespielt hatte, seine Geliebte, die mit einem anderen Manne verheiratet war, und selbst ich konnte das Knistern unglücklicher Leidenschaft zwischen den beiden spüren. Und da waren auch die schlanke, smarte, witzige Yvonne Gunkel-Holliger, und der herzhafte Freddy Willenbucher, und die kurvige, vampische Ballettmeisterin, Rita Gilbert. Und der kurze, runde Maler und Radierer, Jules Klippstiehl.
Und da war auch meine ältere Halbschwester, hochgewachsen und maskulin, die kleine Nebenrollen spielte aber, sich auf ihren Vater berufend, immer die starke Frau markierte. Was mir eigentlich am besten von jener Gelegenheit in Erinnerung blieb, war ihr Auftreten beim Abschiednehmen - wie sie in Richtung meines Vaters stapfte, der neben Nathan Katz saß - es war an einem Sonntagabend - und ausrief, laut genug um vom ganzen Saal gehört zu werden: “Vergiss nicht, Papa, dass Du heute noch nicht zur Kirche gegangen bist!” Ich erinnere mich, wie Nathan Katz verwundert aufblickte. Meine Mutter war empört; ich fand es eher lustig. Meine Halbschwester fühlte sich wahrscheinlich beleidigt, weil Mama und ich mit den “big guys” saßen.
Manchmal, als Kind, auf dem Schulweg, bin ich auf den Gehsteigen von Mulhouse dem einen oder anderen dieser Habitués des “Cercle” begegnet und sie erkannten mich, und lächelten, und begrüßten mich wie eine Erwachsene (selbst, einmal, der Bürgermeister!) und ich fühlte mich recht stolz! Für sie, war ich “Hortenses Kleine” und vielleicht sogar, für wenige, Jules-Xaviers... Nach dem Tod meines Vaters, als ich dreizehn war, gingen wir nicht mehr in den “Cercle” zurück, und ich hatte nicht mehr die Gelegenheit, Nathan Katz zu treffen. Aber ich fuhr fort, seine wöchentlichen Gedichte zu lesen, bis meine Mutter von ihrer Arbeit und von der Agentur hinausgeschoben wurde. In meinen Teens habe ich sogar etliche seiner Gedichte vertont. Zum Beispiel, dieses:
I ha di aber so gàrn!
Wie mànkmol z’nacht
Wenn dr Wing an dr Lade het gschlage,
Bi n i in Gedanke an di
Still unger de Zieche glàge.
I ha di jo so gàrn!
(...)
In den folgenden Jahrzehnten übersetzte ich für meinen Mann, Alfred de Grazia und besonders für unsere Freunde in New York etliche Gedichte von Nathan Katz ins Englische. Auch einige über die Schweden im Dreißigjährigen Krieg im Sundgau, für unsere schwedischen Freunde.
Beim Lesen der Annele Balthasar wird man vielleicht die elsässische Tradition erkennen, in der Nathan Katz gegründet ist:
Der Tristan von Gottfried von Strassburg; Albert Schweizer; die großen Mystiker: Meister Eckhart und Johannes Tauler; der Isenheimer Flügelaltar von Matthias Grünewald; Hans Baldung Grien; Madonna im Rosenhag, von Martin Schongauer...
Zusatz:
Ich habe letzten März Jean-Louis Spieser im Elsass getroffen, der sich leidenschaftlich mit Nathan Katz’ Nachlass beschäftigt. Ich erfuhr, dass des Dichters Jugendfreund, Alfons Becheln, der von Riespach, dem Nachbardorf von Waldihoffen, stammte und der ihn mit den großen Dichtern anderer Kulturen bekannt machte, 1915 in einer Schlacht bei Mittelkerke, neben Ostende, fiel.